Die Corona-Krise 2020 hat die Welt aus den Angeln gehoben und vieles auf den Kopf gestellt. Gehörte es vor der Pandemie zum Arbeitsethos vieler Führungskräfte trotz Erkältung ins Büro zu gehen, so gilt ein solches Verhalten heute als rücksichtslos und gesundheitsgefährdend. Es ist nahezu undenkbar geworden. War Home-Office in vielen traditionellen Branchen sarkastisch als bezahlter Kurzurlaub verschrien, so hat die Corona-Krise vielen Managern aufgezeigt, dass virtuelles Führen von Mitarbeitern im Home-Office besser funktioniert als man geglaubt hatte. Aus der Perspektive von Mitarbeitern ergaben sich gerade in der Krise Momente der Wahrheit hinsichtlich der Führungsqualität ihrer Chefs. „Remote Leadership“ ist seitdem zu einem stehenden Begriff geworden. Es ist davon auszugehen, dass vieles von dem, was sich während der weltweiten Pandemie entwickelt hat, bleiben und zum „New Normal“ werden wird. Vorgesetzte in der Informationstechnologie wie SAP oder Lufthansa Industry Solutions, aber auch Vertriebsleiter in klassischen Vertriebsorganisationen mussten übrigens schon immer Mitarbeiter über Distanz führen, die in Projekten beim Kunden vor Ort eingespannt sind oder im Flächenvertrieb ihre Kunden besuchen. Remote Leadership, häufig mit Verweis auf die technologischen Hilfsmittel der Distanzüberwindung wie Microsoft Teams, WebEx, Skype oder Zoom auch als Digital Leadership oder Virtual Leadership bezeichnet, stellt Führungskräfte allerdings vor einige spezifische Herausforderungen. Führung gilt es vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen daher teilweise neu und anders zu denken.

Was anders läuft

Es ist nicht nur der formelle Austausch zwischen Führungskraft und Mitarbeiter in Meetings oder One-to-Ones, der verstärkt virtuell abläuft. Hinzu kommt, dass es kaum noch Möglichkeiten informeller Begegnungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern am Kaffeeautomaten oder beim gemeinsamen Betreten der Mensa gibt. Stattdessen sind fast alle Interaktionen geplant und folgen einer mehr oder weniger vorgegebenen Struktur. Damit gehen wichtige Gelegenheiten der Beziehungspflege verloren. Vertrauen kann in einer solchen Konstellation zur Herausforderung für beide werden. Führungskräfte müssen hoffen, dass ihre Mitarbeiter die gewünschte Arbeitsmoral, -effektivität und -effizienz an den Tag legen. Produktivitätsmessungen sind lange nicht in allen Branchen und Bereichen möglich. Mitarbeiter müssen darauf vertrauen, dass ihre Chefs sich für sie einsetzen und sie unterstützen, wenn es nötig ist. Kommt hinzu, dass nicht alle Mitarbeiter und Führungskräfte sich im Umgang mit Videokonferenz-Systemen und E-Mail-Kommunikation gleichermaßen wohlfühlen. Dabei kommt dem Informationsaustausch in Zeiten eingeschränkter physischer Nähe zentrale Bedeutung zu.
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Was erfolgreiche Remote Leader besser machen

Die amerikanische Personalberatung Zenger Folkman hat bereits vor der Corona-Pandemie eine bemerkenswerte Vergleichsstudie durchgeführt. Hierzu hat sie die Antworten zu einem 360-Grad-Assessment von 99 Mitarbeitern, die remote geführt wurden, mit den entsprechenden Antworten von 119 Mitarbeitern verglichen, deren Chefs ihnen physisch nah waren. Überraschenderweise erhielten die Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter über Distanz führten, signifikant bessere Beurteilungen ihrer Mitarbeiter als ihre Kollegen, die den Mitarbeitern physisch nahestanden (Folkman 2020). Mehr noch: die remote geführten Mitarbeiter engagierten sich stärker für ihre Aufgabe als die Mitarbeiter der Vergleichsgruppe. Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit den Erfahrungen, die unsere Coachees als Führungskräfte während der Corona-Pandemie erlebt haben. Führungskräfte, die über Distanz führen, sollten:
  • den Kontakt zu ihren Mitarbeitern proaktiv suchen und auch online einen sogenannten High-Touch-Stil pflegen. Das bedeutet beispielsweise nicht nur dann den Kontakt zu Mitarbeitern zu suchen, wenn ie etwas Konkretes von ihnen brauchen, sondern sich auch für ein „privates“ Gespräch Zeit zu nehmen. Empathisches Verhalten schafft Nähe über Distanzen hinweg.
  • in virtuellen Meetings oder am Telefon aktiv zuhören, nicht abgelenkt, sondern bewusst präsent sein. Auch über den Bildschirm wirken wir. Deshalb ist es wichtig, die Kamera ab und an, idealerweise dauerhaft, einzuschalten. Körperspannung, feste Stimme und Augenkontakt – so weit möglich – vermitteln auch online Präsenz (Jenewein 2020).
  • ihre Mitarbeiter befähigen selbständig zu handeln und eigenmächtig notwendige Veränderungen in ihren Arbeitsabläufen vorzunehmen.
  • an sich selbst den Anspruch stellen, im Umgang mit den technischen Möglichkeiten von Videokonferenz-Systemen (wie Chat Rooms, Whiteboards, Umfragen oder Break Out Rooms) versiert zu sein und ein Gespür für den richtigen Umfang und die geeignete Frequenz von Online-Meetings zu haben.
Mitarbeiter dazu animieren auch mit Kollegen anderer Abteilungen und Bereiche virtuell in Kontakt zu treten und zusammenzuarbeiten. Als wesentlicher Stellhebel für den Führungserfolg über Distanz hat sich Klarheit und Transparenz im Hinblick auf das große Ganze – den Purpose, die Mission, die Vision und die Strategie – gezeigt. Entscheidend ist, nicht nur strategische Ziele und Vorgaben den Mitarbeiter zu vermitteln, sondern im kommunikativen Austausch auch sicherzustellen, dass die Strategie allen bekannt und bewusst ist (Folkman 2020).

Quellen

  • Folkman, J. (29. Juli 2020). Do You Know How To Lead A Team Virtually? 6 Tips To Shorten The Distance. https://zengerfolkman.com/articles/do-you-know-how-to-lead-a-team-virtually-6-tips-to-shorten-the-distance/. Zugegriffen am 13. September 2020.
  • Jenewein, Wolfgang (29. Juni 2020): Power, Präsenz, Wärme. Manager Magazin Online. https://www.manager-magazin.de/harvard/management/ fuehrung-in-Krisenzeiten- tipps-vom-leadership-professor-a-00000000-0002-0001-0000-000170432797. Zugegriffen: 1. Juli 2020.
  • Müllner, M.; Müllner, C. (2021). Emotional intelligent führen: Authentisch, motivierend, wirksam, 2. Auflage. Frankfurt: Springer Gabler.